Science Art

Jede neue Kunst ist letzten Endes eine neue Technik. / Every new art is ultimately a new technique. Max Liebermann, 1915

Hans Joachim Reuter, B XII 12

Pioniere

Hans Joachim Reuter (1923 – 2003) war ein international geschätzter Arzt, Wissenschaftler und Medizinhistoriker. Als Endoskopiker war er in den 1960er Jahren ein Wegbereiter neuer bildgebender Techniken in der Endofotografie. In den 1970er Jahren generierte er Bilder mit der Gammakamera und dem Rechner auf dem Bildschirm, Szintigrafien: weitgehend abstrakte Grafiken eines inneren Organs oder einer ganzen Körperregion.

Wie beurteilt man das künstlerische Werk eines Mediziners, noch dazu eines, das sich zwischen mehreren ungewöhnlichen Disziplinen bewegt: Endofotografie, Scintigrafie und Science Art? Der rasante technische Fortschritt und der nicht künstlerische Kontext, aus dem die Bilder hervorgegangen waren, verhinderten den zweiten Blick.

Hier erfolgen eine erste Dokumentation, und Einordung dieser lange Zeit vergessenen Bilder im Kontext der Kunst-, Medizin- und Technikgeschichte.

Um die hunderte von Bildern erfassen und einordnen zu können, den Entstehungsprozeß und die ungewohnte Ästhetik zu begreifen, war es notwendig, andere Stimmen zu hören.
So kam es zu Kontakten mit dem Pionier der Science Art, Herbert W. Franke, und dem Kunsthistoriker Matthias Bruhn, damals Leiter des Forschungsprojektes „Das Technische Bild“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Franke wie Bruhn haben dankenswerterweise zum Buch Hans Joachim Reuter, Leuchtende Bilder, Von der Endoskopie zur Science Art wesentliche Textbeiträge geleistet, die es ermöglichten, neue Einsichten zu gewinnen.

H.J.Reuter, B XI 11

So schreibt Bruhn in seinem Vorwort („Re-Form„), Avantgarde entstehe dort, wo Formgebung auf Bedingungen reagiert und diese über die Form selbst zu ändern sucht. Die Spezialisierungen der Moderne haben zwar dazu geführt, dass ‚Technik‘ als Domäne des Ingenieurwesens und der Wissenschaft angesehen wird, doch experimentieren auch die Künste weiterhin mit Techniken aller Art, während im OP-Saal oder Labor ständig neue Arten von Bildern entstehen, wie etwa die Mikrofotografien und Szintigrafien Reuters.

J.H.Reuter, AF IX 07

Franke stellte Reuter in seinem einführenden Essay („Scintigraphie als künstlerisches Ausdrucksmittel„) in die Reihe jener Persönlichkeiten, die etwas eigenständig Neues zu den Bildwerken der Science Art beigetragen haben: Entdeckungsfahrten, das Eindringen in unbekanntes Terrain, bedeuteten schon immer viel mehr als den Gewinn von verwertbarem Wissen; sie sind ein Erlebnis von persönlichkeitsformender Bedeutung, und eine Facette davon ist die Konfrontation mit einer neuen, bisher nie geschauten Formenwelt.

 

 

Stiftung Buchkunst, Buchmesse, Frankfurt 2011: Preis schönste Bücher Deutschlands

„Bilder, wie sie in der Medizintechnik entstehen, stellt das Buch in Texten und Abbildungsstrecken dar. Das Leuchten der Farbspektren wird in der Farbigkeit und Stofflichkeit der Papiere ebenso gut übersetzt wie die Rasterkompositionen durch die Anordnung der in sich strengen Typografie. Ein in allen gestalterischen Details gekonnt ausgewogenes Buch, informativ und höchst ansehnlich.“

 

 

 

Herbert W. Franke, Scintigraphie als künstlerisches Ausdrucksmittel

Nur wenige Jahre später als Reuter geboren, arbeitete Herbert W. Franke etwa zur selben Zeit mit denselben bildgebenden Verfahren. Sein Beitrag zum Buch Leuchtende Bilder / Luminiscent Images wird hier erstmals in digitaler Form in Erinnerung an beide Pioniere zugänglich gemacht. Im Juli 2022, zwei Monate nach seinem 95. Geburtstag, hat Herbert W. Franke, der Wanderer zwischen Kunst und Wissenschaft seine letzte Reise angetreten. Er lebte fünfzehn Jahre länger als Reuter, der Mediziner und Forscher.

 

Zur Einführung in Frankes Werk:

*Herbert W. Franke Visionär, Reportage von Susanne Paech / HYPER TV, 2022

*“‚Der Computer  ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft‘. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Herbert W. Franke“, in: Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 9,2, Berlin 2013, S.124-142: Herbert W. Franke im Gespräch mit Matthias Bruhn, Judith Berganski und Felix Jäger im Oktober 2011.

*Tribute (80 Künstler im Andenken an Herbert W. Franke):
Short sentences were his. Clear words and sharp. If words connected to form a convincing lecture, his sentences had, of course, to become more complex. Clearly, this is always required if you want to make something clear. But never did he make things complicated if they were complex.
Frieder Nake