Europäer aus Überzeugung: Karl-Heinz Lambertz, Teil 1

Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Umbau, Sanierung: Atelier Kempe Thill (Rotterdam), Partner Artau scrl d’architectures


K/Conversation Teil 1

Der belgische Politiker Karl-Heinz Lambertz (KHL) ist der Verfechter eines föderalen und regionalen Europas. Wir trafen ihn im Januar 2020 im Parlamentsgebäude der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens in Eupen, der Hauptstadt von Ostbelgien. Das umfassende Gespräch wurde in deutscher Sprache im Arbeitszimmer von Lambertz geführt, 2021 aktualisiert und von Matthias Zimmermann ins Französische übertragen.

Allen Beteiligten sei herzlich für ihre Mühe gedankt.

Günther Weydt (Bitburg) und Eva Mendgen (Saarbrücken) stellten die Fragen im Namen der regiofactum-Arbeitsgruppe:

  • Herr Präsident, eine einleitende Frage aus unserer Sicht ist, inwieweit Ihr Engagement für die Großregion und Europa insgesamt mit Ihrer persönlichen Biografie zu tun hat?

KHL: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit und interregionale Zusammenarbeit haben mich immer interessiert und in verschiedenen Zusammenhängen beschäftigt, als eine ganz natürliche und notwendige Verlängerung der Arbeit hier vor Ort in dieser belgischen Grenzregion, in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.

Seit wann habe ich mich damit beschäftigt?
Eigentlich seitdem ich Politik mache, d.h. seit Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, so 1968 – 1970. Ich bin in den letzten beiden Abiturjahren damit konfrontiert gewesen, habe mich dann zehn Jahre lang, von 1970 – 1981, vor allem in der jugendpolitischen Landschaft engagiert und mich dabei auch schon viel mit Austausch beschäftigt – ich erinnere mich an die Debatten über die Ausdehnung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes auf die Drittstaaten, wie man das damals nannte, um auch andere als deutsche oder französische Partner einzubinden. Das war für unsere Region sehr wichtig, genauso wie für Luxemburg.

Arbeitszimmer des Präsidenten im Parlament

Dann bin ich 1981 zum ersten Mal in das hiesige Parlament gewählt worden.

Von 1981 – 1990 war ich Fraktionsvorsitzender, von 1990 – 2014 in der Regierung, davon fünfzehn Jahre als Ministerpräsident. 2019 habe ich zum zweiten Mal die Präsidentschaft des Parlaments übernommen. In der Zwischenzeit war ich von 2016 bis 2019 Vertreter der Deutschsprachigen Gemeinschaft im belgischen Senat, der zweiten Kammer. Das ist der belgische „Bundesrat“, der aber im Gegensatz zum deutschen aus entsandten „Landtagsabgeordneten“ besteht.

Seit der neuen Legislaturperiode bin ich nun wieder Parlamentspräsident.

Das ist meine Laufbahn, die praktisch alle hauptamtlichen Funktionen umfasst, die man hier in der regionalen Politik einnehmen kann.

Während dieser ganzen Zeit habe ich sehr viel mit grenzüberschreitender und interregionaler Zusammenarbeit zu tun gehabt.

Zuerst in den Jahren, als ich Minister war, in der Euregio Maas-Rhein und in der Großregion Saar-Lor-Lux, wo ich in den Leitungsgremien gesessen habe. In der Euregio war ich zweimal Präsident und in der Großregion habe ich einmal die Präsidentschaft wahrgenommen, zusammen mit der Wallonischen Region und der Französischen Gemeinschaft Belgiens, die gemeinsam den belgischen Part ausmachen und die Präsidentschaft ausüben.

Seit 2001 bin ich Mitglied im Ausschuss der Regionen♦ bei der EU in Brüssel und auch im Kongress der Regionen und Gemeinden beim Europarat in Straßburg. Im Kongress war ich Fraktionsvorsitzender, Vorsitzender verschiedener Ausschüsse und Vizepräsident der regionalen Kammer. Im März 2021 bin ich dort erneut Fraktionsvorsitzender geworden. Im Ausschuss der Regionen war ich der Reihe nach Fraktionsvorsitzender, dann erster Vizepräsident und von Sommer 2017 bis Mitte Februar 2020 Präsident. Zurzeit gehöre ich dem Präsidium des Ausschusses der Regionen (ADR) an und bin einer seiner Vertreter in der Konferenz über die Zukunft Europas.

♦Der Ausschuss der Regionen (AdR) ist eine beratende Einrichtung der EU, die sich aus lokal und regional gewählten Vertretern aller siebenundzwanzig Mitgliedsländer zusammensetzt. Diese können über den Ausschuss Stellungnahmen zu EU-Rechtsvorschriften abgeben, die sich direkt auf ihre Regionen und Städte auswirken. Der AdR besitzt Anhörungsrecht gegenüber der EU-Kommission, dem EU-Rat und dem EU-Parlament, ein Initiativrecht sowie ein Klagerecht gegenüber dem Europäischen Gerichtshof.

Von 2010 bis 2017 war ich außerdem Vorsitzender der AGEG, der Arbeitsgemeinschaft europäischer Grenzregionen, deren Vorsitz ich seit November 2020 wieder übernommen habe und die 2021 50 Jahre alt wird.

Ganz generell würde ich zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sagen, dass sie – gerade für eine kleine Grenzregion wie die Deutschsprachige Gemeinschaft – in einer Reihe von Fragen von essenziellem Interesse ist. Diesbezüglich ist diese Region besonders gut situiert, da sie Grenzen mit drei Staaten hat, mit den Niederlanden und mit Luxemburg im Norden und im Süden und dann im Osten mit Deutschland, den beiden Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.

Aber auch die innerbelgische Sprachgrenze hat eine große Bedeutung für uns, weil diese in Belgien eine große Rolle spielt und die Beziehungen zu den anderen Sprachgemeinschaften manchmal genauso komplex wie internationale Beziehungen sind.

Sprachgemeinschaften (hier Französisch/Flämisch (Niederländisch) Fotografie: die arge lola/regiofactum

Hinzu kommt, dass die Region den großen Vorteil hat, dass sie schon seit langem sowohl in der Euregio Maas-Rhein Mitglied ist – im Städtedreieck Maastricht-Lüttich-Aachen mit rund vier Millionen Einwohnern – als auch in der Großregion Saar-Lor-Lux mitarbeitet, die ja einen größeren Verbund mit 12 Millionen Einwohnern ausmacht, wo das Großherzogtum als Staat und zwei deutsche Bundesländer, Rheinland-Pfalz und Saarland, drei belgische föderale Strukturen, Wallonien, die Französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft, sowie die französische Region Lothringen am Tisch sitzen. Nach erfolgter Gebietsreform ist letztere nun Teil der Region Grand-Est, wobei man noch genau sehen muss, wie sich das mittelfristig in den Strukturen der Großregion widerspiegeln wird.

Für unsere Region war es immer sehr wichtig, dass wir das Grenzüberschreitende als Bestandteil unserer tagespolitischen Geschäfte ansehen. Bei der Lösung von Problemen prüfen wir von vorneherein systematisch, wo es grenzüberschreitende Verknüpfungen gibt, ob man Probleme in der Zusammenarbeit lösen, ob man Dienstleistungen übernehmen oder wie man sonst zusammenarbeiten kann.

Darüber hinaus versuchen wir natürlich, uns nicht nur grenzüberschreitend nach Partnern umzusehen, sondern auch interregional. Partnerschaften mit den Nachbarn sind wichtig, prioritär und am tiefsten, aber wir haben auch gelernt, dass es sich lohnt, anderswo in Europa nach Regionen Ausschau zu halten, die bei der Lösung einer präzisen Frage interessante Erfahrungen einbringen oder sogar Kooperationsperspektiven eröffnen können.

Sitz der Regierung Ostbelgiens, Eupen Fotografie: Mendgen

 

Deshalb spielt alles, was grenzüberschreitend oder interregional ist, hier eine große Rolle, und ich bin persönlich der Überzeugung, dass das gerade für eine kleine Region sehr wichtig ist. Man muss in der Region tief verwurzelt sein und wissen, was da läuft und wie die Dinge ticken. Gleichzeitig muss man aber auch möglichst breit vernetzt sein und verhindern, dass sich alles nur um den eigenen Nabel dreht. Man muss dafür sorgen, dass zu dieser Verankerung und Verwurzelung auch eine breite Vernetzung kommt. Aus der Kombination von beidem lässt sich sehr vieles entwickeln, voneinander lernen, gemeinsam anpacken und interessant gestalten.

Darüber steht natürlich die allgemeine Perspektive der europäischen Integration.
Das kann man aus der Perspektive des Europarates sehen, vor allem, wenn es um grundsätzliche Wertvorstellungen geht, die gerade in unseren heutigen Zeiten doch viel umstrittener sind, als das noch vor zwanzig Jahren der Fall war, wenn man etwa das Auseinanderdriften in Grundfragen wie Pressefreiheit und unabhängige Gerichtsbarkeit oder die Einstellung zur Migrationspolitik in gewissen Visegrád-Staaten beobachtet, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Einbindung in die Europäische Union ist sicherlich noch fundamentaler, da diese schon jetzt ein Gemeinwesen mit verschiedenen Ebenen darstellt. Dabei sind die lokale und regionale Ebene besonders wichtig, wenn man nach dem Subsidiaritätsprinzip funktionieren will. In diesem Zusammenhang spielt der Ausschuss der Regionen eine wichtige Rolle. Das Umsetzen der europäischen Rechtsordnung oder das Verwirklichen von EU-Projekten etwa im Rahmen der Strukturfonds sind gerade vor Ort von großer Bedeutung.

Wenn ich das alles in einem Satz zusammenfassen will, kann ich sagen, dass meine ganze politische Arbeit – immer und nicht nur so nebenbei als Nebenprodukt, sondern substanziell als Kernbereich – auch die Dimension der grenzüberschreitenden und interregionalen Zusammenarbeit mit umfasst hat. Für mich ist beides unlöslich miteinander verbunden und gehört fundamental zusammen.

  • … Sie verbinden grenzüberschreitend mit interregional. Es scheint nicht der Standard zu sein, dass beides in einem Satz genannt wird?

KHL: Man muss eine Begriffsbestimmung vornehmen. Nach meinem Verständnis ist eigentlich territoriale Zusammenarbeit der richtige Oberbegriff.
Es gibt drei Kategorien, die man in den Strukturen der Förderbestimmungen der EU wiederfindet. Die erste Kategorie ist das unmittelbar Grenzüberschreitende, die Zusammenarbeit zwischen Körperschaften, die eine gemeinsame Grenze haben. Das ist klar und verständlich.

Neben der grenzüberschreitenden haben wir die transnationale, d.h. die großflächige Zusammenarbeit.
Diese ist anwendbar auf die Nachbarschaft Belgiens mit Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Luxemburg oder Nord-Frankreich. Hier gibt es eine Förderrichtlinie für Projekte im INTERREG-Bereich. Dazu gehört auch das Thema der makroregionalen Zusammenarbeit, zum Beispiel im Alpen-, Ostsee- oder Donauraum. Im Zusammenhang mit dem Brexit wird darüber diskutiert, ob eine solche makroregionale Strategie nötig und möglich ist. Man kann sich auch die Frage stellen, ob es nicht sinnvoll wäre, entlang der alten Binnengrenze Dänemark, Deutschland, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Schweiz usw. eine makroregionale Perspektive als übergeordneten Kooperationsraum zu entwickeln. Dabei geht es um strategische Fragen wie Raumplanung und Verkehrswege. Das wäre die zweite Kategorie der territorialen Zusammenarbeit.

Die interregionale Zusammenarbeit ist die dritte Kategorie. Hier geht es um die Zusammenarbeit zwischen Regionen, die keine gemeinsamen Grenzen haben. Die Deutschsprachige Gemeinschaft arbeitet zum Beispiel mit dem Kanton Zürich im Sonderschulwesen oder mit Südtirol bei der Erarbeitung einer neuen Raumordnungsgesetzgebung zusammen.

Natürlich ist das Transnationale von Bedeutung, weil es sich dabei um großräumige Strategien handelt.
Von praktischer Bedeutung sind jedoch vor allem die grenzüberschreitende und die interregionale Zusammenarbeit mit weiter entfernten, nicht angrenzenden Regionen, die in einem Themenfeld interessante Lösungen entwickelt haben und Kooperationsperspektiven eröffnen.
Ich habe diese beiden Perspektiven immer zusammen gesehen.

Da herrschen verschiedene Gesetzmäßigkeiten, aber vieles von dem, was man in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit an Erfahrungen sammelt, lässt sich gut übertragen auf die interregionale Zusammenarbeit. Eine besondere Rolle spielt dabei die interkulturelle Kommunikationskompetenz, die man braucht, um vernünftig mitinander in Kontakt zu treten.
Da ist die Frage nach den Sprachkenntnissen, aber auch den Mentalitäten und den Verwaltungsstrukturen, die unterschiedlich sein können. Diese Kompetenz ist eine Voraussetzung, um erfolgreich grenzüberschreitend und interregional zusammenzuarbeiten.
Wenn Sie im Alltag das vernünftige Zusammenarbeiten zwischen Polen und Deutschen oder zwischen Luxemburgern und Franzosen hinbekommen wollen, dann muss schon einiges auf diesem Gebiet gut funktionieren, genauso wie zwischen Deutschland und Frankreich; aber das kennen Sie ja.

Mehrsprachigkeit ist eine ganz wichtige Komponente, zumindest wenn man sich richtig verstehen will.
Eine andere wichtige Komponente ist die Detailkenntnis der jeweiligen Verwaltungsstrukturen. Da besteht oft ein großes Defizit. Bei solchen Kontakten sitzen regelmäßig Leute zusammen, die meinen, sie wüssten, worüber sie reden. Aber in Wirklichkeit wird aneinander vorbeigeredet, weil die Strukturen verschieden sind.
Ein weiterer Aspekt ist die mentale und von Gepflogenheiten geprägte Art und Weise, miteinander zu arbeiten. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Geschäftsessen können eine große Rolle spielen oder die Art und Weise, wie man Versammlungen vorbereitet, mit Tagesordnungspunkten und Dokumenten. Da gibt es allein zwischen der französischen und deutschen Herangehensweise ganz große Unterschiede. Uns hier in der Region kommt zugute, dass wir das alles aus sehr direkter Erfahrung tagtäglich mitbekommen, weil wir an der „Kulturscheide“ zwischen der romanischen und germanischen Kultur leben. Das kann Vorteile haben, aber auch das Leben schon mal komplizierter machen. Auf jeden Fall gehört das alles dazu.

…. Fortsetzung folgt …

Mendgen und Lambertz im Gespräch
Fotografie Monika Hau (danke Monika!)