Für Europa – ein europäisches Profil in der Berufsbildung 

Man kann nicht oft genug wiederholen: die Einheit Europas wird nicht einzig und nicht hauptsächlich durch die europäischen Institutionen zustandekommen; ihre Erschaffung wird der geistigen Wegbereitung folgen.

Die Überbrückung der Schranken ist noch nicht ausreichend; wir müssen die Zusammenarbeit organisieren. Dies erfordert vor allem zahlreiche persönliche Kontakte: Austausch von Lehrkräften, Kongresse und Studienreisen, Ausstellungen, Rundreisen, Begegnungen von jungen Handarbeitern und Intellektuellen.

Robert Schuman, Für Europa, 1963*

Diese Gedanken waren mir im Wortlaut nicht bekannt, als ich im Juli 2000 mit dem Aufbau und der Leitung des noch im Bau befindlichen Europäischen Berufsbildungswerks in der Stadt Bitburg beauftragt wurde. Sie können aber als ein Leitgedanke betrachtet werden, diesem überregional ausgerichteten Berufsbildungszentrum in Grenznähe zu Luxemburg, Belgien und auch Frankreich ein eigenständiges Profil zu verschaffen.

Anders als „Intellektuellen“ an Universitäten und Hochschulen, die schon immer grenzüberschreitenden Austausch gesucht und gepflegt haben, stand „Handarbeitern“ diese Möglichkeit bis vor nicht allzu langer Zeit so gut wie gar nicht offen – wenn man einmal von der traditionellen Waltz weniger Zünfte absieht.

Naturstein-Lehrgang der Landschaftsgärtner auf Kreta

Dies gilt umso mehr für die Zielgruppe der Berufsbildungswerke als besondere Ausbildungszentren der (Re)Habilitation junger Menschen im Rahmen der beruflichen Erstausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz (sowie dem SGB IX in Verbindung mit SGB III).

Der Maastricht-Vertrag mit der Freizügigkeit nicht nur des Waren- und Geldverkehrs, sondern auch der arbeitenden Menschen, das Schengener Übereinkommen mit Wegfall der Grenzkontrollen, und – aus deutscher Sicht – auch der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ zur deutschen Vereinigung schufen in den 90er Jahren in den rheinland-pfälzischen Grenzregionen eine proeuropäische Stimmung, in und durch die gezielt eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit gesucht wurde.

So erfolgte die Gründung eines weiteren Berufsbildungswerks in Rheinland-Pfalz (RLP) am Standort Bitburg als infrastruktureller Reflex auf die Schließung des US-amerikanischen Militärflughafens ab 1995. Dies wiederum war logische Folge des vorbenannten Vereinigungsvertrages, der zugleich die besondere Rolle der Alliierten im Nachkriegsdeutschland beendete und zum Abzug alliierter Truppen führte.

In Zusammenarbeit mit den zuständigen staatlichen Stellen in Luxemburg, in der Wallonie und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens gelang es deshalb 1997, eine gemeinsame Absichtserklärung zur Zusammenarbeit bei Aufbau, Nutzung und Weiterentwicklung dieses Berufsbildungswerks aufzustellen und zu unterzeichnen und später einen multinational besetzten Fachbeirat einzurichten.

Visionär war und ist dieser Ansatz insofern, als Kultur und Bildung keine unmittelbare Aufgabe der Europäischen Union, sondern subsidiäre Angelegenheit der Nationalstaaten sind. Will man aber die Freizügigkeit der Menschen bei der Wahl der Arbeitsplätze grenzüberschreitend fördern, setzt dies u.a. auch die Vergleichbarkeit der national in unterschiedlicher Weise erworbenen beruflichen Qualifikationen voraus. Analog zu dem in den 90er Jahren begonnenen Bologna-Prozess zur Schaffung eines einheitlichen Hochschulraums begann 2001/2 der Brügge-Kopenhagen-Prozess, innerhalb dessen die Bildungsminister der EU-Mitgliedsstaaten sich freiwillig (!) auf einen Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) und andere Maßnahmen verständigten, über den die Berufsabschlüsse der Nationalstaaten vergleichbar und gegenseitig anerkennbar werden.

Die sprachliche Barriere – am Standort Bitburg ist dies Französisch in Richtung Wallonie und Frankreich sowie Deutsch vice-versa – hat die Nutzung als Ausbildungsstätte durch ausländische Auszubildende ebenso beschränkt wie immer noch bestehende nationale Restriktionen bezüglich einer Ausbildungsfinanzierung im Ausland.
Gleichwohl haben ausländische Auszubildende, vor allem aus Luxemburg und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, das Leben auf dem Campus und Sichtweisen bei Auszubildenden wie Mitarbeitern erweitert.

Die für Berufsbildungswerke üblichen mehrwöchigen betrieblichen Praktikumsphasen der Auszubildenden wurden und werden am Standort Bitburg gezielt auch für Lernphasen im nahegelegenen Luxemburg oder Belgien genutzt, aber – in Abhängigkeit der einzelnen Berufe – auch in allen anderen EU-Ländern.
So ist beispielsweise ein Auslandspraktikum in Spanien für angehende Tourismuskaufleute fast schon „Pflicht“ und ein Praktikum in Irland oder England für angehende Fachinformatiker sehr sinnvoll, um berufliche Handlungskompetenz zu erwerben.

Mittlerweile besteht ein breites Netzwerk an institutionellen Partnern und Betrieben, sodass das Alleinstellungsmerkmal des Euro-BBW, jedem Auszubildenden ein Auslandspraktikum zu ermöglichen, erfüllt werden kann. Dabei helfen auch die Fördermittel der EU aus dem Erasmus plus – Programm und die besondere Zertifizierung der Einrichtung durch die Nationale Agentur beim Bundesinstitut für Berufsbildung, durch die eine verwaltungsmäßig vereinfachte Beantragung möglich wird – übrigens nicht nur für die Azubis, sondern auch für Ausbilderinnen, Lehrer, Erzieherinnen und sonstige Betreuungskräfte, die ja ebenfalls die national unterschiedlichen Ausbildungsansätze kennenlernen sollen, um voneinander lernen und Auszubildende motivieren zu können.

We thoroughly enjoyed our trip to Euro BBW. Loved being introduced to your media design department, meeting staff including Andreas and Harry who gave an amazing insight into the pedagogical model and coursework in the design department. Thank you so much für your professional and personal hospitality and looking forward to building our relationship further in the year.

Annie Hogan, Ballyfermont College of Further Education, Ireland

Berufsbildungswerke (BBW) sollen und können nur durch einen ganzheitlichen Ansatz ihren Bildungsauftrag erfüllen, indem die beiden Säulen der Berufsausbildung, nämlich berufspraktische Unterweisung in Werkstätten oder Ausbildungsbüros und berufsfachliche Unterrichtung in der Berufsschule, unter dem Dach des BBW „verzahnt“ und durch begleitende sozialpädagogische, psychologische und medizinische Fachdienste unterstützt und durch Wohngruppenbetreuer in den Internaten und Außenwohngruppen als „soziale Lernorte“ ergänzt werden.
Dies ist Herausforderung und Chance zugleich: Herausforderung, weil unterschiedliche Berufsgruppen eine gemeinsame Sprache und Herangehensweise entwickeln müssen, Chance, weil so den sehr unterschiedlichen Förderbedarfen der Auszubildenden individuell Rechnung getragen werden kann.

Anders als in der rein betrieblichen Ausbildung bestand und besteht aber so auch die Chance, ein europäisches Profil systematisch in die unterschiedlichen Lernorte hineinzutragen, indem die integrierte, staatlich anerkannte Berufsschule – zugleich auch Europaschule des Landes RLP – europäische Themen im Fachunterricht regelmäßig aufgreift, diesbezüglich Exkursionen und Klassenabschlussfahrten und Schulpartnerschaften organisiert oder die jährliche Europa-Woche um den 9. Mai thematisch nutzt und Europa-Abgeordnete zu Diskussionsrunden einlädt, im Freizeitbereich grenzüberschreitende Ausflüge und Sommer-Camps durchgeführt, in Küche und Hauswirtschaft die kulturellen Hintergründe unseres international gewordenen Speiseplans erarbeitet werden.

Nach einer mittlerweile über 20-jährigen Praxis mit über 1.000 erfolgreichen Ausbildungsabschlüssen in anerkannten Berufsbildern hat dieses Berufsbildungswerk sicherlich einen spürbaren Beitrag für die Organisation der Zusammenarbeit im Schumann’schen Sinne geleistet und für sich tragfähige Arbeitsstrukturen geschaffen, die noch weiter ausgebaut werden können.
Gleichwohl gilt, dieser Stand muss immer wieder neu von den Mitarbeitenden erarbeitet werden.

Das europäische Profil ist ein „Plus“, das sich auch in der Bewerbungsmappe der Azubis durch Erasmus-Zertifikate oder europaweit anerkannte Zusatzqualifikationen widerspiegelt, aber nicht vom Kostenträger gesondert vergütet wird. Wenn beispielsweise nationale Sprachpolitik dazu führt, dass die Sprache des Nachbarn nicht mehr unterrichtet wird, hat dies negative Auswirkungen auch auf die Durchführung von schulischen Austauschprojekten.

Und wenn im Fall des Brexit die Teilhabe-Möglichkeiten an EU-Austauschprogrammen gewollt ausgeschlagen werden, fallen etablierte Netzwerke in Großbritannien zusammen.
Bleibt deshalb zu hoffen, dass die Feier zum 60. Jubiläum des Élysée-Vertrages die ursprünglichen Ideen der deutsch-französischen Jugendbegegnungen wieder in Erinnerung ruft und neue gegenseitige Anstrengungen auch in der grenzüberschreitenden Berufsbildung entfacht.

Günther H.W. Weydt:

Diplom-Sozialwissenschaftler, geb. 1952 in Mülheim a.d. Ruhr, von 2000 bis 2018 Leiter des Europäischen Berufsbildungswerks in Bitburg (www.euro-bbw.de), europäisch vernetzt über zahlreiche grenzüberschreitende Projekte, u.a. auch in der regiofactum-Arbeitsgruppe zur Großregion (u.a. Interview-Serie Europäische Pioniere für den regiofactum-notizblog: Schumanisten (1-3), Karl-Heinz Lambertz, Les pionniers Européens)

 

*Robert Schuman, Für Europa, 1963, zitiert n. 2. Aufl. 2010, Genf (Nagel), S. 37