Brennero : Brenner

Viaggio con Irene e Waltraud

Samstagmittag, das Wetter durchwachsen, der Zug – eine S-Bahn der ÖBB – ultramodern und genagelt voll mit Pendlern, Wandervögeln, E-Bike-Rittern und Einkaufswütigen – verkehrt ab Innsbruck im Stundentakt, ein kurzer Blick in die Sillschlucht, dann hinauf ins Wipptal. Matrei, Steinach, Gries – dazwischen vereinzelte Gehöfte und die Europabrücke, über die der Verkehr rollt.

Ein Güterzug rauscht auf dem Nachbargleis talwärts in Richtung Innsbruck. Aus wie vielen Waggons er besteht, das ist mit bloßem Auge kaum erkennbar. Ziemlich viel Verkehr auf so engem Raum, denke ich.

Irene, mit der ich unterwegs bin, erinnert sich auf der Fahrt an ihre Kindheit im Steinach der späten 50er und frühen 60er Jahre, als es noch keine Autobahn gab. Das hundertjährige Bestehen der Brennerbahn war der Bevölkerung eine rauschende Feier wert, denn die Bahn brachte die Sommerfrischler und den Tourismus ins Wipptal. Heute liegt Irenes Geburtsort im Schatten einer großen Autobahnbrücke über die täglich abertausende Autos und LKWs rollen.

Unser Reiseziel ist an diesem Tag Brennero, der am Brennerpass gelegene Grenzort in der autonomen Provinz Bozen, den Irene als Un-Ort bezeichnet. Wie dies gemeint sein könnte, dämmert mir bei der Einfahrt in den Bahnhof. Lediglich die Fernzüge von und nach Bozen fahren auf Durchgangsgleisen, die S-Bahnen aus Innsbruck enden auf einem Sackbahngleis.


Das Bahnhofsgebäude selbst ist groß, sehr groß – ein Bauprojekt aus der Ära Mussolinis, um den vorherigen Bau zu ersetzen, und inzwischen selbst schon etwas in die Jahre gekommen.

Der Durchlass zwischen Österreich und Italien, zwischen Nord- und Südtirol, ist topographisch relativ eng. Die Häuser drängen sich zwischen den Hauptstraßen des Ortes (eine Trasse pro Fahrtrichtung), Bahngleisen und Autobahn. Hohe Berge, inzwischen regenverhangen, eingeschlagene Schaufenster leerstehender Geschäfte, dazwischen ein Café, eine Pizzeria (die es, so sagt Irene, schon ewig gibt und in der ich später die beste Pizza meines Lebens essen werde), zwei Kirchen.

An einer Hauswand am Rande der nach Süden führenden Hauptstraße verrät fast protzig (oder trotzig?) eine steinerne Tafel, dass sogar Giovanni Goethe über den Brenner nach Italien gereist ist.

Das kleine Land, in dem ich lebe im Hier und Jetzt, es ist eines, in dem die Geschichte seltsam präsent ist, eines, in dem die Menschen seltsam wissend sind, dass ihre Welt immer eine untergehende, verschwindende war und ist.

Waltraud Mittich, Ein Russe aus Kiew, edition laurin bei innsbruck university press 2022, S. 77

Früher, so sagt meine Freundin, besuchte ihre Mutter zu Weihnachten die Messe in der Kirche von Brennero. Der Brenner war für die Leute aus dem Wipptal das Tor zu einer anderen (Konsum-)Welt: Kleidung und Lebensmittel wurden nicht nur im Ort, sondern auch etwas außerhalb auf dem sogenannten Brennermarkt gehandelt. Der Grenzübergang wurde damit nicht nur wirtschaftlich zu einem Punkt der Berührung zwischen Nord und Süd. Irene erinnert sich, etwas Wehmut scheint dabei mitzuschwingen, an die Fahrten zum Markt und die Delikatessen, die dort zu haben waren.

… die Grenzzieher trennten ein landschaftlich durchgehendes Tal, das zusammengehörte, sie trennten auch den östlichen Teil Tirols von Süd- und Nordtirol aufgrund schludriger militärisch-strategischer Überlegungen. […] Sie missachteten kirchliche Zuständigkeiten, zerrissen Bezirke, Gemeinden, Familien, landwirtschaftliche Besitzungen, sie unterbanden Wegverbindungen, den Warenverkehr, alle Aktivitäten kultureller, religiöser, wirtschaftlicher Art.

Waltraud Mittich, S. 249

Um ein Vielfaches größer als das Bahnhofsgebäude und trotz aller Enge des Tales unmittelbar auf die Staatsgrenze gebaut: das Outlet Center Brenner, in dem neben Lebensmitteln vor allem Kleidung, Spielzeug und Haushaltswaren zu bekommen sind.


Nördlich davon, jenseits des Kreisverkehrs, befindet sich das zugehörige Parkhaus und im ehemaligen Gebäude des österreichischen Zolls ein weiteres Bekleidungsgeschäft mit dem markigen Namen Grenzgänger – wohl um der Tradition des Brennermarktes und seiner Kunden zu gedenken?

Die Eindrücke dieses ökonomischen Paralleluniversums werfen mich nun völlig aus der Bahn. Im Obergeschoss des Outlet Centers, vielleicht um die wartenden „Chauffeure“ der einkaufswütigen Meute zu unterhalten, befindet sich eine kleine Ausstellung zur Ortsgeschichte – der unweit gelegene mondäne Kurort Brennerbad ist längst Geschichte wie auch die Treffen zwischen Hitler und Mussolini am Brenner.

Die Gräber der Zeugen jener Zeit verwittern auf dem Kirchhof der alten Kirche von Brennero…

Am Abend: Das Outlet Center hat geschlossen, die dort Angestellten haben nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern mehrheitlich auch den Ort verlassen. Die engen Hauptstraßen sind verwaist. Geplant ist unsere Rückfahrt mit der Bahn, wir stehen pünktlich an dem Gleis, auf dem unser Zug abfahren sollte… nichts geschieht. Es beginnt zu regnen. Unmittelbar fällt mir ein Song von David Bowie ein: And the rain sets in / It’s the angel man / I’m deranged.

Ja, ich fühle mich etwas mitgenommen ob der Eindrücke des Tages, die mich – wollte ich doch ursprünglich lediglich für eine Geschichte zum Grenzbahnhof von Brennero recherchieren – unvorbereitet getroffen und betroffen gemacht haben.

Der „angel man“ entpuppt sich als Busfahrer des Schienenersatzverkehrs, der uns schließlich in Rekordzeit über die nächtliche (und staufreie) Brennerautobahn nach Innsbruck bringt. Im selben Bus sitzen – neben einem jungen Südtiroler, der die Nacht in Innsbrucker Diskotheken zu verbringen gedenkt – vor allem Zugreisende auf dem Weg von Bozen nach Innsbruck und weiter nach München. Die Dashcam des Busses überträgt die Autobahnfahrt für die Passagiere. Was ich sehe, ich muss schmunzeln, erinnert an die Titelsequenz zu David Lynchs Lost Highway – untermalt von dem Song, der mir bereits am Bahnhof durch den Kopf ging.

Die Heimat [wird] zum Mythos, wo niemand mehr ankommen kann, ein Un-Ort wird sie immer mehr, ohne Geschichte, Identität und Bindungen.

Waltraud Mittich, S. 114

Doch sind die Aussichten für Brennero wirklich so düster? Ich mag nicht glauben, dass der Ort angezählt ist und sich anschickt ein „Lost Place“ zu werden.

Brennerbahn und die Autobahn bedeuteten in der Vergangenheit große Veränderungen für das Leben im Wipptal und am Brenner.
Der derzeit im Bau befindliche Brennerbasistunnel wird zusammen mit der Umfahrung Innsbrucks der längste seiner Art werden. Die Fahrzeit im Fernverkehr von und nach Bozen wird sich massiv verkürzen und für Brennero und seinen Bahnhof, der bereits jetzt die beste Zeit hinter sich hat, könnten tatsächlich lausige Zeiten anbrechen. Bis es soweit ist, wird allein der Bau des Tunnels die Landschaft im Wipptal und jenseits der Grenze verändern.
Vielleicht liegt darin auch die Chance, die Region nicht nur unterirdisch wieder zusammenwachsen zu lassen. Was unter Tage gelingt, kann auch als Modell für eine Transformation des Grenzraumes über dem Tunnel dienen.
Dabei geht es keinesfalls um die politische Wiedervereinigung des österreichischen Bundeslandes Tirol mit dem italienischen Südtirol, sondern um eine neue Definition des Raumes jenseits nationalstaatlicher Zugehörigkeit.

Tage später, nach meiner Rückkehr aus Tirol, lese ich in Waltraud Mittichs neuem Buch:

Es besteht begründete Hoffnung, dass wir dabei sind, die sprachlichen, religiösen, kulturellen Grenzen zu überschreiten. Es geht nun wohl darum, ein Identifikationskonstrukt auszuarbeiten,  das es erlaubt, Realitäten wie Dorf und Region zu erweitern auf ein europäisches Maß. Um schließlich zu einer neuen Betonung von Staatsbürgerschaft zu gelangen.

Waltraud Mittich, S. 78

Ich wage zu hoffen, dass auch hier am Brenner allem Ende ein neuer Anfang innewohnt, der Zauber sichtbar wird, der aus dem  „Grenzraum“ ein Vorbild werden lässt für andere, nur scheinbar desolate und vom Rest der Welt abgehängte Regionen.

Christine Dölker, 02/2023

Fotografie: Christine Dölker